Einsiedel die Perle im Zwönitztal
Einsiedel-2

“Mit 93% ist Einsiedel der am meisten zerstörte Ort Sachsens”, so steht es in der Schlussabrechnung im Mai 1945, denn der Krieg war vorbei. Doch noch heute frage ich mich: Warum nur hat man sich für die totale Zerstörung diesen Industrieort im Zwönitztal wohl ausgesucht? Da wurden ja nur Strümpfe gewirkt, da wurde ja nur Bier gebraut.
Die Zerstörung kam schrittweise. Am 6. Februar war es ein Haus. Drei Tage später stand das halbe Dorf an zwei Gräbern, und die Angst machte sich breit. Dann bekam das Wort “Christbaum” einen zweiten, einen fürchterlichen Sinn. Am 14. Februar abends standen erstmals diese Leuchtmarkierungen für Bombenziele über den Häusern. Die Fabriken, sie haben es auf die Fabriken abgesehen. In dieser Nacht starben vier Menschen, drei von ihnen waren tschechische Zwangsarbeiter.
Wenn man 19 Jahre alt ist, heilen Wunden schnell. Ein Schuss durch den Unterarm, was war das schon. Für mich war das die dritte Verwundung. Vier Wochen blieb ich im Lazarett. Und so fuhr ich am 3. März von Bayrisch-Eisenstein nach Weißenfels, um dort den Marschbefehl zu bekommen. Für Chemnitz waren mit drei Tage Fahrtunterbrechung genehmigt; Genesungs- oder Heimaturlaub gab es nicht mehr.
Zu Hause kam ich zur rechten Zeit an. “Den Keller abstützen”, sagte mein Vater. “Manche haben die Betten im Keller, bleiben die ganze Nacht unten”, sagte die Mutter. Wir wohnten am Mühlberg, das Dorf war weit, der Wald gleich hinter dem Haus. Der Keller war abgestützt. “Wenn das Haus getroffen wird, nützt das gar nichts”, wußte ich. Aber die Mutter schüttelte nur den Kopf: “Wir bleiben ja alle beisammen.”
Vor zwei Tagen hatten Sprengbomben quer über den Mühlberg eine Schneise durch den Wald gebrochen, die Erde auf- und umgewühlt. “Ob das der Talsperre galt?” Doch Mutter meinte: “Da war ein anständiger Mensch da oben, der wollte keinen treffen.
Vater, auch für den Volkssturm zu alt, hatte Brandwache bei Wex & Söhne, einer Strumpffabrik. Großvater, weit über 80, machte alte Petroleumlampen zurecht: “Ich gieh ne en`n Kaller”. In Krumhermersdorf geboren, war er allem treu geblieben: seinem Wald, seiner Schnitzerei; seinem Dialekt. Draußen wehte und schneite es. Vaters Fußstapfen im matschigen Faschingsschnee wurden weiß.
Und wieder ein Abend in Angst. Es war, als lebte alles unter der Erde. Keine Straßenlaterne, kein Lichtschimmer aus Fenstern. Kinder gingen in Strümpfen, Hemd und Hose schlafen, Schuhe, Jacke, Mantel lagen vor dem Bett.
Die Sirenen heulten kurz nach acht durch das Schneetreiben, und dann ging es Schlag auf Schlag: Christbäume über Einsiedel, das ganze Tal lag in diesem weiß-grünen Licht, das langsam, ganz langsam immer tiefer kam. Dann dieses Propellergeräusch, kein Heulen, kein Brummen. Nur war zu hören: Es sind viele, sehr viele. Gegen halb neun begann Einsiedel zu zerbrechen, die Bomben krachten Welle auf Welle, eine Stunde lang. Uns war, als zielten sie nur auf dieses Haus. Die Erde zitterte, oben sprangen Türen aus den Angeln, Wände stürzten ein, wir krochen hilflos aneinander, und die kleine Helga, das Kind meines Bruders, der schon irgendwo auf der Krim begraben war, weinte, rief und schrie nur: “Böses Auto fort, böses Auto fort!” Dann wurde es still. Großvater kam in den Keller. Sagte kein Wort.
Vorbei! Das Haus stand zwischen zwei Bombenstrichen, einer davon zehn Meter vor der Haustür, Innenwände waren eingestürzt, der Dachfirst klaffte auseinander, aber im Garten brannten zwei hellweiße Feuer: Stabbrandbomben, Magnesiumstäbe, so groß, wie ein achtkantiger Spatenstiel. “Sie hing`em Dach, ich hab sie rausgerissen”, so der Großvater. Doch eben diese Bomben waren hinterhältig und hochexplosiv, sie sollten in der Panik wirken, hatten einen Verzögerungszünder und waren mit Wasser nicht zu löschen. Wir schaufelten sie mit Erde zu.
Das Dorf brannte, Asche und Papierfetzen wehten im Schnee. “Ich geh Vater suchen, er wäre ja schon längst hier.” Keiner gab mir Antwort.
Der Hof von Franke-Bauer brannte. Er war unser nächster Nachbar, zwei Frauen, ihre Männer irgendwo im Krieg. “Das Vieh, zuerst das Vieh!” Nie hätte ich geahnt, wie schwer es ist, Kühe, Pferde durchs Feuer zu bringen. Die Ställe selbst brannten noch nicht, doch die Kühe standen auf einer Seite des Wohnhaus. “Was über die Augen, was über die Köpfe!” Nasse Säcke, nasse Körbe!, das half, die Kühe und die Pferde konnten wir retten.
Ich suchte mir einen Weg durch Mauerreste, brennende Dachsparren und abgestellte Möbel. Die Feuerwehr hatte ihre Schläuche ausgerollt, aber ein Funkenflug machte die Schläuche zu Sieben, Wasser spritze nach allen Seiten, nur, am Stahlrohr strahlte nichts mehr. Löschen war unmöglich.
Wex & Söhne, die alte Strumpffabrik, ein brennender, rauchender Trümmerhaufen, um einen aufgerissenen Schuppen herum, Massen von Kupferdraht, auf Rollen gespult, in verschiedenen Stärken. Habt ihr hier Strümpfe aus Kupferdraht gemacht? Dann fand ich Vater. Von einem Unterstand hatte es die ganze Bedeckung fortgerissen, und mit weit offenen Augen lehnte er an der Erdwand, aus seinem Mundwinkel tropfte ein Rinnsal Blut. Er war Tot. Von einer Erdschicht bedeckt, lagen noch andere, keiner lebte mehr. Der Druck einer Luftmine hatte ihnen die Lungen zerrissen.
“Dich laß ich nicht hier”, sagte ich zu ihm, und drückte ihm die Augen zu. Ein herumstehender Handwagen war bald gefunden, dazu der Rest einer Tür und dann dieser Kupferdraht. Noch einmal nahm ich meinen Vater in den Arm und zog ihn aus dem Unterstand. Plötzlich hinter mir ein bekanntes Geräusch! Ich drehte mich um. Da stand einer der Ortspolizisten. Er kannte mich, ich kannte ihn, er kannte meinen Vater. Nur jetzt stand er da in Stiefeln und Stahlhelm und hatte seinen Karabiner durchgeladen. “Was machen sie hier? Mit Plünderern machen wir kurzen Prozeß!” “ Ich lass doch meinen eigenen Vater nicht hier liegen!”. Wahrscheinlich muss ich fürchterlich geschrieen haben. Er zögerte, sicherte sein Gewehr: “Ihren Urlaubsschein!”. Zum Glück hatte ich meine Papiere bei mir. Er ging, aber gegen die Fabrikruine rief er noch einmal: “Mit Plünderern machen wir hier kurzen Prozeß!”
Ich fuhr meinen toten Vater auf einem Handwagen durchs Dorf. Keiner wunderte sich, keiner blieb stehen, der Friedhof liegt auf einem Berg, keiner hatte Zeit zu helfen, den Wagen mit zu ziehen, und ich nahm es keinem übel. Erst viel später fiel mir auf dass ich niemanden traf, der weinte.
Die Kirche brannte. Der Kirchturm stand noch immer wie eine Fackel gegen den Himmel, eine Leichenhalle gab es nicht mehr, doch ein Friedhof hat Platz für alle.
Mir blieb nur noch ein Tag. Der Friedhofsgärtner zeigte mir einen Platz für das Grab, er half mir auch. Der Durchschuß im Arm schmerzte. Im Standesamt mußte ich mich in die Reihe stellen, das Familienstammbuch für den Totenschein hatte ich bei mir.
Auf dem Friedhof wurden die Toten in Reihen gelegt, gerade hatte man hunderte überschritten.
Wir begruben Vater am Nachmittag. Er lag auf Tannengrün, zugedeckt mit Zweigen aus dem Wald. Wir, das waren die aus dem Keller von gestern und ein Nachbar, ein alter Imkerfreund. Als wir einander an den Händen fassten, und Großvater gegen die Wolken hinauf rief: “Warum haste nich mich gehult”, tropften endlich die Tränen. Aber keiner kann für den anderen sterben.
Ich blieb allein, das Grab zuzuschaufeln. Der Pfarrer war nicht gekommen, aber auch ein Geistlicher ist ein Mensch, auch das Pfarrhaus war eine Ruine.
Den Heimweg ging ich allein. Die Trümmer rauchten, und der dampfende Neuschnee gab einen seltsamen Geruch. Dort, wo die Herrmannstraße bergauf geht, war ein Rohr gebrochen, und Wasser stieg auf, wie aus einer Quelle. Dort spielten Kinder Rettung. Sie stellten Bretter an und stellten Steinmauern auf. Material hatten sie ja genug.
Wäre noch nachzutragen:
Großvater lebte noch bis zum nächsten Winter. Er stürzte die Bodentreppe hinunter, als der Strom ausgeschaltet wurde.
Der Franke-Bauer, dessen Pferde und Kühe bald wieder einen eigenen Stall hatten, kam 1947 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. “Wu de Russen sin, wird nischt aus dr Landwirtschaft”, sagte er, und er war der Gleiche, der noch in der frühen Nazizeit zu einem Erntedank-Festumzug, als “die Scholle zwischen Saat und Ernte” dargestellt wurde, mit einem geschmückten Pferdegespann und einer säuberlich glattgeklopften Stalldungfuhre an der Spitze fuhr, beiderseits die Schrifttafeln:
Das ihrsch olle wißt, doß is richtscher, fettscher Mist.

Erinnerungen von Werner Schönherr, Riemserort.
                                       Erschienen in Erzgebirgische Heimatblätter 2/2002
 

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2015 © Copyright by Bernd Obermaier  Projektstart: 25.07.2000 aktueller Stand vom 03.01.2015
154 Seiten Einsiedler Geschichte,